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Dein Profil im Netz: ein Selbstoptimierungsprojekt?

Zu dem Post “Man uebt sich - aber in was?” hat ein Leser folgenden Kommentar geschrieben. Dieser Kommentar gefaellt mir so gut, dass ich ihn hier (zumindest teilweise) als Artikel veroeffentliche:

Thomas:

“…….In philosophischen Momenten – auf der Intensivstation oder in einer Gletscherspalte oder Montag morgens bei der Wassergymnastik im Rahmen der Krankenkassen-Maßnahme „50 plus – fit für den Job“ – hat man mitunter das Empfinden, man wüßten gar nicht so genau, wer man ist. Seit mindestens 150 Jahren ist das völlig normal. Wir nennen es ‚Moderne‘. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: seit mindestens fünf Jahren gibt es ein Mittel dagegen. Wir nennen es ‚soziale Netzwerke‘.
Die Online-Community, um eine noch dümmlichere Bezeichnung zu verwenden, ist in Wahrheit, das heißt ökonomisch betrachtet eine virtuelle Massenhaltung mit freiwillig an der Futterrinne der Werbewirtschaft angetretenem Datenvieh. Die euphemistisch ‚User‘ genannten Benutzten beziehen jeder eine ‚Profil‘ getaufte Box und füllen ein paar stereotype Fragebögen mit all den Nettigkeiten aus, aus denen heute so ein digital-urbanes Leben zwischen zwanzig und fünfzig besteht, also Job-Mosaik plus Lieblingsserien. Wobei es ihnen zurecht Spaß macht, dass sie überhaupt noch nach ihrer Meinung gefragt werden. (Wozu vernetzt man sich denn sonst, wenn einen keiner nach seiner Meinung fragt?) Sind die Leutchen soweit eingegliedert, dürfen sie nach Lust und Langeweile ihre digitale Box mit jugendfreien Bildern bekleben und mit politisch korrekten Zitaten verzieren, ihren mehr oder eher minder außergewöhnlichen Alltag auf tausenderlei Arten vermerken, vermessen und verkünden wie Thesen an einem postmodernen Kirchentor, außerdem, least but not last, ihren bei Halbgratis-Spielchen erdaddelten Trophäennebbich ausstellen und mit Leuten, die einen seit der Kindergartenabschlussfeier nicht mehr genervt haben, ansteckungsfrei drauflosmenscheln bis zum Bindehautkatarrh. Klingt doof? Nur, weil ich’s doof gesagt habe.

Darum nochmal anders gesagt: hier werden alle Ego-Träume wahr.
Schon das Wort Profil bedeutet nicht weniger als einen klaren Umriss der Person, die hinter dem Schirm sitzt, einen Schattenriss, ein zweidimensionales Portrait also. Wie bei jeder Distanzkommunikation fehlt die dritte Dimension, die räumliche Tiefe, und die Begegnung im Zeitfluss, kurz: die Realität. Ich und die Anderen, das Licht der Welt und mein Schatten, nur diese beiden gegensätzlichen Ebenen konturieren das Image. Jeder Netzwerker wird so zum Schöpfer eines zweiten Präsentier-Ichs, von dessen distinktiven Qualitäten die als ‘Freunde’ umheuchelten Juroren dieses Selbstoptimierungsprojekts zu überzeugen sind. Jeder sein eigener Frankenstein, der ein Second Me, gewissermaßen seinen Sozialavatar, aus den Leichenteilen eines Bedeutungsuniversums zusammenlumpt, in dem von der Biermarke (Astra!) bis zum Zwölftonkomponisten (Hauer!), von der politischen Theorie (Ordoliberalismus!) bis zur Lieblingsmetropole (Shanghai!) schlichtweg alles als Zutat in der narzisstischen Retorte dienen kann, um sich im individualistischen Wettrüsten günstig vor der Konkurrenz zu positionieren. Im Überangebot der Netzgesellschaft – an potentiellen Partnern, Freunden, Mitbewerbern, Charismatikern – kämpfen bange Privatmenschlein mit ähnlichen Strategien um Aufmerksamkeit wie Unternehmen in der Offline-Ökonomie: Unverwechselbarkeit, ‚Alleinstellungsmerkmal‘ im Marketingdummdeutsch, ist für Produkte wie für Menschen das konkurrenzverdrängende Ideal.”

Posted in Auslaender, Ballett, Blockempfehlungen, Computer und Internet, Fettnaepfchen, Freiheit, Konflikte, Uncategorized.

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